Der Film
Harry Palmer ist ein kleiner Agent unter vielen und von
seinem Job nicht besonders begeistert. Als er von langweiligen, aber ungefährlichen
Routine-Aufgaben auf das Verschwinden von britischen Wissenschaftlern,
die gehirngewaschen wieder auftauchen, angesetzt wird, macht er sich keine
großen Hoffnungen viel herauszufinden. Dann stößt er auf ein Tonbandschnipsel
mit der mysteriösen Beschriftung Ipcress, und bald überschlagen sich die
Ereignisse und Palmer weiß nicht mehr wem er wirklich trauen kann...
Als 1962 der erste James Bond-Film in die Kinos kam, hatte Len Deighton
im Fahrwasser der allgemeinen Spionage-Welle sein erstes Buch The
Ipcress File veröffentlicht, das schnell zu einem erfolgreichen Bestseller
wurde. Von seinen Kritikern wurde der Autor als ein neuer Ian Fleming
gefeiert, und die Bond-Produzenten Albert R. Broccoli und Harry Saltzman
wurden auf den jungen Autor aufmerksam. Sie heuerten ihn als ersten Drehbuchautor
für ihre neue Fleming-Verfilmung From Russia with Love an, aber
sie waren mit seinem Stil nicht zufrieden und ersetzten ihn schnell durch
andere Autoren.
Palmer, Harry Palmer.
Harry Saltzman hatte jedoch Len Deightons ungewöhnlichen Spionagethriller
mit dem namenlosen Antihelden nicht vergessen und erwarb die Filmrechte
an The Ipcress File und dessen Fortsetzungen. Eine Verfilmung
ließ allerdings noch auf sich warten, da sich Saltzman zusammen mit seinem
Partner Albert Broccoli erst einmal auf die James Bond-Reihe konzentrieren
wollte. Nach dem großen Erfolg der ersten drei Filme sah Saltzman aber
die Chance, eine Alternative zu Ian Flemings Geheimagent auf die Leinwand
zu bringen – jemand, der fast dessen Gegenteil war und eine Art Spion
repräsentierte, die zuvor noch nie so im Kino zu sehen war.
Len Deightons Agent mit James Bond zu vergleichen liegt natürlich auf
der Hand, aber die beiden Charaktere könnten nicht verschiedener sein:
Bond ist Geheimagent mit Leib und Seele und würde sich für Queen and Country
auch in Stücke reißen lassen. Deightons namenloser Spion, der erst in
den Filmen den notwendigen Namen Harry Palmer erhielt, ist aber nur ein
kleiner Arbeiter, der von seinen Vorgesetzten für ersetzbar und überflüssig
gehalten wird, seine Aufträge nie freiwillig macht und erst recht keinen
Spaß an seiner Arbeit hat. Er hat aber keine andere Wahl, denn man hat
ihn wegen Schwarzmarktgeschäften während des Kriegs am Wickel und sein
Vorgesetzter ist eigentlich nicht der Geheimdienst, sondern das Kriegsministerium.
Harry Palmer sollte kein glorreicher Spion sein, sondern ein desillusionierter
Soldat, der als unfreiwilliger Agent seine Strafe abarbeiten muß um schlimmeren
zu entgehen. Dennoch ist er kein Schwerverbrecher und hat einen hohen
Gerechtigkeitssinn, aber letztendlich geht es ihm auch nur darum wieviel
er am Anfang des Monats auf seinem Konto hat - schließlich muß auch ein
Geheimagent irgendwie leben, besonders wenn er um jede kleinste Spesenausgabe
bei seinen Vorgesetzten betteln muß. Trotz seiner kleinen Wohnung und
seinem bescheidenen Privatleben hat Palmer durchaus hohe persönliche Ansprüche
- seine Vorliebe zum Kochen, zur klassischen Musik und zu schönen Frauen
erinnern ein wenig an Johannes Mario Simmels Thomas Lieven, der auch einer
der wenigen unfreiwilligen Agenten der Spionage-Literatur ist.
Das Gesicht des Agenten
Ursprünglich wollte Harry Saltzman die Hauptrolle von The Ipcress
File mit Christopher Plummer besetzen, der sich aber nicht mit einem
Vertrag über fünf Filme für ein ungewisses Projekt anfreunden konnte und
lieber zusammen mit Julie Andrews im Musical The Sound of Musicvor der
Kamera stehen wollte. Auch Richard Harris lehnte ab, stattdessen mußte
sich Saltzman nach anderen jungen Schauspielern umsehen und stieß auf
Michael Caine, der sich schon seit den fünfziger Jahren als Schauspieler
im Theater und in Film-Nebenrollen durchgeschlagen hatte und noch auf
seinen großen Durchbruch wartete. Harry Saltzman nahm den Schauspieler
unter Vertrag und versprach ihm, ihn zu einem zweiten James Bond zu machen
- allerdings auf eine völlig andere Weise.
Michael Caine erwies sich als ideale Besetzung für den lakonischen Agenten,
den er auf eine sehr zurückhaltende, natürliche und etwas satirische Weise
spielte und damit Len Deightons Buchvorlage erstaunlich nah kam. Außerdem
konnte der Schauspieler durchsetzen, daß er seine Brille im Film tragen
durfte, so daß er sie später einfach absetzen konnte und damit nicht auf
seine Agenten-Rolle festgelegt war. Kurzsichtigkeit und ein Allerwelts-Auftreten
waren aber nicht die einzigen Markenzeichen von Harry Palmer, sondern
auch der trockene und bittere Zynismus der Romanvorlage, die Michael Caine
trotz seines relativ zurückhaltenden Auftritts perfekt auf die Leinwand
zu bringen wußte.
Freunde, Feinde und Liebschaften
Michael Caine wurde von einer hervorragenden Schauspieler-Riege unterstützt,
die allerdings genauso wie er damals keine großen Stars waren. Der größte
Name in der Besetzungsliste war der britische Charakterdarsteller Nigel
Green, der Harry Palmers neuen Vorgesetzten Major Dalby mit einer urbritischen,
militärischen Steifheit spielt und ihn damit nicht gerade zu einem der
sympathischsten Charaktere des Films macht. Es war nicht das erste Mal,
daß Nigel Green zusammen mit Michael Caine vor der Kamera stand, denn
die beiden Schauspieler waren schon ein Jahr zuvor gemeinsam in Cy Colemans
Afrika-Kriegsdrama Zulu aufgetreten. Der vielbeschäftigte Schauspieler
konnte in The Ipcress File seine Fähigkeiten hervorragend unter
Beweis stellen und aus Major Dalby einen erinnerungswürdigen Unsympathen
machen.
Für die Rolle von Palmers altem Chef Colonel Ross konnte Harry Saltzman
den neuseeländischen Schauspieler Guy Doleman gewinnen, den er zuvor schon
für eine kleine Nebenrolle im vierten Bond-Film Thunderball engagiert
hatte. Sein Auftritt in The Ipcress File ist dagegen viel ausgedehnter,
wodurch Doleman die Gelegenheit hat, ähnlich wie sein Kollege Nigel Green
eine typisch britische Reserviertheit ausführlich zu demonstrieren. Allerdings
ist Colonel Ross bei weitem nicht so unsympathisch wie Major Dalby und
erinnert mit seiner trockenen Art und seinem Wohlwollen gegenüber dem
aufmümpfigen Harry Palmer nicht zuletzt auch ein wenig an James Bonds
Vorgesetzten M.
Len Deighton hatte schon aus der Romanvorlage keine reine Männersache
gemacht und einen ungewöhnliche weibliche Nebenfigur in die Romanvorlage
eingebaut, die auch in der Verfilmung eine kleine, aber wichtige Rolle
spielt: Harry Palmers neue Kollegin Jean, die im Film sehr reserviert,
kühl und undurchsichtig von der relativ unbekannten Schauspielerin Sue
Lloyd dargestellt wird. Mit den glamourösen Girls der James-Bond-Filme
hat sie nur wenig zu tun und wirkt sogar mehr wie eine strikte Miss Moneypenny
als ein aufreizende Agenten-Gespielin, aber dafür entspricht sie
ganz und gar nicht dem üblichen Stereotyp und kann auch mit Intelligenz
und nicht nur mit Aussehen überzeugen.
Der Herr des Chaos
Als Regisseur suchte sich Harry Saltzman den jungen Kanadier Sidney J.
Furie aus, wünschte sich aber bald, jemand anderen gefunden zu haben:
der Produzent war vom scheinbar chaotischen Arbeitsstil seines Regisseurs
entsetzt. Schnell entbrannte ein Kampf zwischen dem tempramentvollen Saltzman
und Furie, der beinahe vor den Wutausbrüchen des Produzenten reißaus genommen
hätte und nur durch die Überzeugungsarbeit von Crew und Schauspielern
wieder zurückgeholt werden konnte. Sidney J. Furie machte trotz des Ärgers
weiter und setzte seine unkonventionellen Methoden durch, auch wenn es
Harry Saltzman nicht gefiel.
Zusammen mit dem Kamera-Veteran Otto Heller erschuf Sidney J. Furie einen
ungewöhnlichen visuellen Stil. Die Kamera zeigte das Geschehen aus oft
abenteuerlichen Winkeln und der Blick des breiten Techniscope-Bilds wird
oft durch Gegenstände verdeckt, was den beunruhigenden Eindruck des heimlichen
Beobachtens erzeugt. Die ungewöhnliche Bildkomposition wirkt auf den ersten
Blick seltsam, funktioniert aber als erzählerischer Trick wundervoll und
gibt dem Film ein ganz eigenes Aussehen, das später gerne von vielen kopiert,
aber nie so effektvoll wie in The Ipcress File eingesetzt wurde.
Das umgekrempelte Buch
Die Drehbuchadaption von Bill Canavay und James Doran mußte natürlich
einiges von der sehr detailreichen und ausführlichen Romanvorlage streichen,
von der nur ein paar grundlegende Ideen übernommen wurden - die Charaktere
und die düstere Stimmung blieben jedoch weitgehend intakt. Auf ein Voiceover
als Umsetzung des Ich-Erzählers wurde verzichtet, weil die Unmengen von
Text zuviel für ein Filmdrehbuch gewesen wären und ein laufender Kommentar
die Atmosphäre des Films zerstört hätte - kompensiert wurde dies aber
stattdessen mit überdurchschnittlich viel Dialogen. Im Gegensatz zum Buch
findet die Handlung komplett in London statt, was offenbar eine Entscheidung
aus rein ökonomischen Gründen war, die aber in enger Zusammenarbeit mit
Len Deighton geschah. Dadurch gelang die Umsetzung der Idee erstaunlich
gut und konnte trotz der massiven Abweichungen zu der ursprünglichen Geschichte
sehr vorlagengetreu bleiben.
Der Plot ist jedoch sehr komplex geblieben und hat mit den anderen Filmen
des Genres, die meist um Actionszenen herum konstruiert wurden, kaum Gemeinsamkeiten.
Auf ein großes Spektakel wartet man in The Ipcress File weitgehend
umsonst, aber dennoch hat die Handlung erstaunlich viel Inhalt zu bieten.
Überdurchschnittlich viel Dialog und sehr wenig klassische Actionfilm-Handung
machen aus The Ipcress File einen regelrecht intellektuellen
Film, denn wer hier sein Gehirn auch nur fünf Minuten abschaltet oder
kurz verschwindet, verpaßt bei der enormen Handlungsdichte sofort den
Anschluß. Der Plot ist wie ein komplexes Puzzle - zu Beginn machen die
Einzelteile kaum einen Sinn, erst im Laufe des Films wird deren Bedeutung
langsam klar.
London à la Deighton
Statt in aufwendigen Studiosets wurde The Ipcress File hauptsächlich
an Originalschauplätzen in London gedreht. Es wurde jedoch nicht das bunte
Swinging London der sechziger Jahre in Szene gesetzt, sondern eine graue,
verregnete Großstadt, die nicht besonders einladend aussieht, aber dafür
einen umso authentischeren Eindruck macht. Dadurch ist die Szenerie des
Films auch ein wertvolles Zeitdokument, das eine Seite der britischen
Hauptstadt aus der Mitte der sechziger Jahre zeigt, die auf der Kinoleinwand
nicht oft zu sehen ist. Erreicht hatten Sidney J. Furie und Kameramann
Otto Heller dies, indem sie die Stadt nicht aus der aufregenden Perspektive
eines Touristen, sondern aus der alltäglichen Sicht eines Einheimischen.
Für das Produktionsdesign war Ken Adam verantwortlich, der sich zuvor
mit den gigantischen Sets der Bond-Filme einen Namen gemacht hatte und
Harry Saltzmans erste Wahl für The Ipcress File war. Seine ausgefallenen
Konstruktionen waren jedoch diesmal weniger gefragt, denn es galt eine
ganz und gar gewöhnliche Kulisse zu konstruieren. Zwar wurden einige Szenen
in den Pinewood Studios in Szene gesetzt, aber der größte Teil der Innenaufnahmen
wurde in einem zum Studio umfunktionierten Londoner Wohnhaus gedreht,
das gleichzeitig auch als Kantine, Büro und viele andere Produktionsabteilungen
verwendet wurde. Ken Adam sorgte dafür, daß die Kulissen ein völlig realistisches
Aussehen bekamen, das gerade durch die Unauffälligkeit ein Meisterstück
ist.
Der Klang des Verrats
Neben Editor Peter Hunt hatte Produzent Harry Saltzman auch noch einen
weiteren unverzichtbaren Mitarbeiter aus dem Stab der Bond-Filme ausgeliehen:
Komponist John Barry, der den Filmen einen unverwechselbaren Sound gegeben
hatte. Für The Ipcress File blieb er seinem Stil zwar weitgehend
treu, zeigte aber seine Wandlungsfähigkeit und schrieb eine sehr ungewöhnliche
Titelmusik. Statt einem krachenden Titelsong wird der Vorspann von einer
leisen, melancholischen Melodie begleitet, die die düstere und mysteriöse
Stimmung des Films hervorragend zum Ausdruck bringt.
Den ganz besonderen Klang seiner Filmmusik erreichte John Barry diesmal
nicht nur mit seinen charakteristischen Bläsersätzen oder einem elektrisierenden
Gitarrensolo, sondern hauptsächlich mit dem Cimbalom, einem Dulcimer-ähnlichen
Saiteninstrument, das in The Ipcress File so effektiv wie in
keiner anderen Filmmusik zum Einsatz kommt. Die darauf gespielte Titelmelodie
ist fast das einzige Thema des Films, das in vielen verschiedenen Arrangements
zu hören ist, die zwar nicht alle das seltene Instrument als Solostimme
verwenden, aber durchgängig eine genauso ungewöhnliche rhythmische Begleitung
aus Vibraphon, Querflöte und nur sehr sparsam eingesetzten Blechbläsern
verwenden. Mit der ungewöhnlichen Instrumentierung hat John Barry aus
einfachen Melodien eine beeindruckend innovative Filmmusik geschaffen
Ein Geheimtip
The Ipcress File hätte zu einer ernsthaften Konkurrenz der James
Bond-Filme werden können, aber die intelligente Art des Films mit den
zahlreichen Dialogen und der komplexen Handlung war nicht wirklich tauglich
für das Massenpublikum. Dadurch blieb der ganz große Erfolg aus, aber
dennoch konnte The Ipcress File ein ganz ansehnliches Stammpublikum
gewinnen und auch die Kritiker waren von der ungewohnt anspruchsvollen
Kinounterhaltung durchweg begeistert. Immerhin hatte Harry Palmers erstes
Abenteuer mit Funeral in Berlin und The Billion Dollar Brain noch zwei
Nachfolger, die zwar auch keine wirklich großen Erfolge waren, aber zu
den besten Agentenfilmen der sechziger Jahre gehören und heute einen guten
Ruf als echte Klassiker genießen.
Für Michael Caine bedeutete der Film den Start einer langen und bis heute
anhaltenden Schauspiel-Karriere. Kaum jemand kann sich aber noch daran
erinnern, daß der heutige Charakter-Darsteller einst als kleiner Geheimagent
Harry Palmer anfing. Der Bekanntheitsgrad von The Ipcress File,
in Deutschland unter dem relativ akkurat übersetzten Titel Ipcress - Streng
Geheim bekannt, hält sich in Grenzen und wird von der Konkurrenz, hauptsächlich
natürlich dem Bond-Franchise, sehr stark überschattet. Wenn man aber die
andere, realistischere Seite des Genres schätzt, bleiben nur John LeCarré
und natürlich Len Deighton übrig, von denen The Ipcress File eine der allerbesten Verfilmungen ist.
Die DVD
The Ipcress File wurde bereits 1999 von Anchor
Bay in den USA als DVD veröffentlicht, aber leider ist diese Disc schon
seit langem out-of-print, was sehr schade ist da sie einen hervorragenden
Audiokommentar mit Regisseur Sidney J. Furie und dem mittlerweile verstorbenen
Editor Peter Hunt enthielt. Die britische DVD ist wegen eines mieserablen
Pan&Scan-Bilds völlig indiskutabel, aber vor zwei Jahren nahm sich Ulrich
Bruckner, der Produktionsmanager von Koch Medien, des Films an und sorgte
für eine erstaunlich gute, aber nicht ganz perfekte deutsche Veröffentlichung
des Films.
Koch Medias DVD von The Ipcress File wartet mit einem schicken
Cover- und Menüdesign auf und enthält sogar ein kleines Booklet mit Reproduktionen
von deutschem Werbematerial zum Film. Und obwohl Bild- und Tonqualität
den Umständen entsprechend wirklich gelungen sind, hat diese DVD doch
einen Wermutstropfen: Koch Medien ist es leider nicht gelungen den Audiokommentar
der amerikanischen DVD zu lizensieren, so daß die Extras lediglich aus
ein paar Texttafeln und einem Trailer bestehen. Dennoch war die deutsche
DVD die beste und einzige Möglichkeit The Ipcress File in genießbarer
Form anzuschauen - bis in England im Frühjahr 2006 die neue Special
Edition von Network Video erschien.
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